Musik ist systemrelevant
Prof. Dr. Heinz Rüddel war 23 Jahre ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Fachklinik St. Franziska-Stift in Bad Kreuznach. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Innere Medizin und Psychologischer Psychotherapeut. Heute leitet er gemeinsam mit Diplom-Psychologin Eva Katharina Mohnke eine Ausbildungsstätte für Psychotherapeuten in Bad Kreuznach.
VorSicht: Homeoffice, Lockdown – gewohnte Abläufe finden so nicht mehr statt – wie gelingt es dennoch, Struktur im Leben zu bewahren und sich nicht „gehen zu lassen“?
Prof. Heinz Rüddel: Man sollte dafür sorgen, dass die gleichen Mechanismen gelten wie an jedem Arbeitstag, sich fest geregelte Arbeitsabläufe vornehmen und diese ganz konsequent einhalten.
VorSicht: Gewohnte Hobbys, Vereinsleben etc. sind nicht mehr möglich, wie lässt sich der Alltag dennoch abwechslungsreich gestalten?
Prof. Heinz Rüddel: Das ist ganz schwierig, denn der Alltag soll ja ganz bewusst eingeschränkt werden. Ich vermisse auch, dass wir nicht mehr mit fünf Leuten Doppelkopf spielen können – und es geht insbesondere jungen Leuten so, dass die „daily uplifts“ einfach weg sind, also die Momente, die einem positive Energie für den Alltag verleihen. Dafür Ersatz zu finden, ist richtig schwierig – und darin sehe ich tatsächlich das größte Problem: das fehlende Freizeitvergnügen, für das es keine adäquate Kompensationsmöglichkeiten gibt.
VorSicht: Haben Sie Tipps, wie sich diese Uplifts trotzdem finden lassen. Abends ein Fläschchen Wein?
Prof. Heinz Rüddel: Abends ein Fläschchen Wein ist das eine, auch wenn das nicht die Regel werden sollte. Musik entdecken, eine schöne Sendung schauen, etwas lesen … In der Psychotherapie benutzt man eine Liste von „100 schönen Dingen“, wenn man die durchgeht, sollte jeder etwas finden. Das ist aber nicht nur eine Frage in Lockdown-Zeiten.
VorSicht: Was steht beispielsweise auf der Liste?
Prof. Heinz Rüddel: Zum Beispiel kleine Dinge, wie sich im April vor ein gelbes Rapsfeld setzen. Diese Pracht kann man nur schön finden … Oder sich im Frühjahr an die Nahe setzen und die Natur beobachten. Im Kern bedeutet es also, sich bewusst etwas vorzunehmen, was einem positive Impulse gibt, das ist etwas sehr Individuelles.
VorSicht: Im Winter nehmen depressive Stimmungen wetterbedingt wieder zu. Da ist es doch umso schwieriger, sich solche Lichtblicke zu suchen …
Prof. Heinz Rüddel: Klar ist: Wer bisher noch nichts gefunden hat, was für ihn ein „Uplift“ ist, dem wird man das so schnell auch nicht beibringen können. Ich halte das aber für das A und O: der Versuch, nach etwas Positivem außerhalb der Arbeit zu suchen.
VorSicht: Wir haben die Flasche Wein angesprochen – die kann aber mitunter gefährlich werden. Wann wird sie bedrohlich?
Prof. Heinz Rüddel: Das ist eine sehr individuelle Frage. Wir sagen ja generell: Für Männer sind etwa 25 Gramm Alkohol pro Tag unproblematisch, für Frauen bis 20 Gramm. Das heißt, etwa ein Glas Wein ist unbedenklich. Wenn es mehr wird, gilt die alte buddhistische Regel: Wenn man es hinbekommt, einen Tag in der Woche keinen Alkohol zu trinken und eine Woche im Monat, hat man das Problem in der Regel im Griff.
VorSicht: Vielleicht ist der Arbeitsplatz in Gefahr, Feste fallen aus, Zerstreuung fehlt – „positives Denken“ alleine reicht manch einem nicht, um geistig im Gleichgewicht zu bleiben. Wie lassen sich so schwerwiegende Probleme gedanklich bewältigen?
Prof. Heinz Rüddel: Mit psychotherapeutischer Hilfe, wenn Gedanken um Probleme kreisen, die aber mit der Realität nicht viel zu tun haben. Dann kommt die ACT-Therapie zum Tragen: die Acceptance- und Commitment-Therapie. Heißt im Klartext: Konzentriere dich darauf, was du verändern kannst, und akzeptiere alles, was du nicht verändern kannst. Vergeude keine Energie für etwas, das du sowieso nicht ändern kannst. Das ist nur „Hamsterrad laufen“ und bringt nichts. Das ist die psychotherapeutische Lösung für eine Situation, in der sich die Gedanken an etwas Schlimmes im Kreis drehen. Wenn aber die Situation selbst schlimm ist, dann helfen auch solche Ansätze nicht viel.
VorSicht: Gibt es dennoch Möglichkeiten, solche Probleme zu strukturieren und problemlösungsorientiert ranzugehen?
Prof. Heinz Rüddel: Darüber reden, reden, reden. Wichtig ist auf jeden Fall, nicht zu verbittern, also sich den Optimismus zu bewahren. Und man sollte nicht versuchen, alleine da durch zu kommen, sondern sich Hilfe suchen, zum Beispiel bei der Telefonseelsorge.
VorSicht: Wie bemerke ich bei anderen, zum Beispiel bei Freunden oder Familienmitgliedern, dass psychische Probleme die Person zu überwältigen drohen?
Prof. Heinz Rüddel: Wenn jemand in der Corona-Situation überhaupt nichts mehr macht, nichts mehr unternimmt unter dem Aspekt – es ist alles verseucht, ich muss drin bleiben –, also ängstliches Vermeidungsverhalten zeigt, das auffällig ist, dann würde ich es ansprechen. Wenn jemand depressiv in den Tag startet und dann nicht mehr rauskommt und es auffällt, dass er komplett freudlos ist, dann braucht er Hilfe.
VorSicht: Gibt es Ansprechpartner, die schnell Hilfe bieten können?
Prof. Heinz Rüddel: Das wäre unter anderem die Telefonseelsorge. Auch Psychotherapeuten bieten Erstberatung an.
VorSicht: Haben diesbezügliche Probleme und Anfragen nach Ihrer Erkenntnis zugenommen?
Prof. Heinz Rüddel: Die Untersuchungen diesbezüglich laufen noch, es gibt noch keine verlässlichen Zahlen. Wahrscheinlich haben die Probleme aber zugenommen. Meine Erfahrung in Kontakt mit den jungen Psychologen, die ich ja aus- und weiterbilde, zeigt, dass die Lebensbewältigungsängste und die depressive Symptomatik wohl zugenommen hat. Aber das sind keine wissenschaftlichen Daten, sondern nur ein Gefühl aus der Alltagssituation.